Wilhelm Busch erzählt in »Unter Menschen« von einer Begegnung in den 30er Jahren:
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das AT unter Trommelfeuer genommen. Überall konnte man hören und lesen: Nun ja, das Neue Testament könne man noch einige Zeit gelten lassen; denn da werde der Gott der Liebe gelehrt. Nur die Briefe des Juden Paulus müsse man ausmerzen. In denen sei der Geist des Alten Testaments zu spüren. Das Alte Testament aber – oh, das sei ein fürchterliches Buch, ein grauenvolles Buch! Da rede der jüdisch-syrische Wüsten-Rache-Gott.
In jener Zeit kam ein Herr zu mir, ein wirklich netter, gebildeter Mann. »Herr Pastor!« sagt er: »Ich möchte meinen kleinen Jungen taufen lassen. Aber eine Bitte habe ich: Nehmen Sie einen Text aus dem Neuen Testament. Mit dem Alten Testament, mit diesem grauenvollen Buch, will ich nichts zu tun haben.« »Gern will ich Ihren Wunsch erfüllen«, erwidere ich ihm. »Aber wissen Sie nicht, dass man das Alte und das Neue Testament nicht voneinander trennen kann? Wissen Sie nicht, dass der Gott des Alten Testaments der Vater Jesu Christi ist?« Da unterbricht er mich: »Wir wollen nicht streiten, Herr Pastor. Aber, nicht wahr, einen neutestamentlichen Tauftext!« »Ja!« sage ich. »Das kann man machen!« Ich überlege: »Was halten Sie von dem Wort: ›So spricht der Herr: Ich habe dich je und je geliebt. Darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte‹. Ist das recht?« »Prachtvoll! Wunderschön! Sehen Sie, das ist neutestamentlich! Das klingt ganz anders als das Donnern des Rache-Gottes im Alten Testament! Den nehmen Sie!« Ich muss lachen: »Das Wort ist aus dem Alten Testament!« Verblüffung! Verlegenheit! Dann fasst er sich. »So, ja, ja. Sicher steht das in einem der kleinen Propheten. Da waren nämlich einige Nicht-Juden dabei.« »Nein, mein lieber Herr«, muss ich ihm erklären. »Das steht im Propheten Jeremia. Allerdings spricht dieser Jude Jeremia nur als Beauftragter des lebendigen Gottes.« Jetzt schnappt er nach Luft. »Ich verstehe schon, was Sie wollen«, sage ich. »Es gibt da ein Bibelwort: ›Schrecklich ist‘s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen …‹« »Da haben wir es!« unterbricht er mich. »So spricht der jüdisch-syrische Rache-Gott…« Erschrocken hält er inne; denn ich lache laut los. »Herr! Dies Wort steht im Neuen Testament!« Schlussendlich ließ der Mann sich doch noch etwas sagen. Und wir haben eine schöne Tauffeier gehabt.
Ist der Gott des Alten Testaments ein liebender Gott? Nach dem Vorurteil vieler Menschen scheint der Gott des Alten Testaments ein ganz anderer, als der des Neuen Testaments zu sein. Ist das Alte Testament nicht längst überholt? Kann man den Text des Alten Testaments heute noch jemandem zumuten?
Diese und andere Fragen behandelt ein sehr schöner Artikel von Prof. Dr. Dr. Rainer Mayer, den ich jetzt gerade auf meiner Festplatte gefunden habe. Er geht sehr fundiert auf das Thema ein. Er deckt unter anderem das Missverständnis der Regel „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ auf und bemüht sich um eine faire Darstellung und Erklärung der Landnahme Kanaans (das war kein „Heiliger Krieg“, sondern eher ein „Jahwekrieg“).
Meiner Meinung nach ist Gott, im Neuen wie im Alten Testament derselbe, auch wenn es aufgrund der fortschreitenden Offenbarung Gottes Akzentverschiebungen und unterschiedliche heilsgeschichtliche Phasen gibt. Für einen Gott Liebe im Alten Testament spricht meines Erachtens:
- Gott ist ein genialer Schöpfer, der in Gemeinschaft mit den Menschen lebte: Er hat die Menschen vollkommen erschaffen. Sie waren keine leidenden Knechte etc., sondern lebten in einer Liebesgemeinschaft mit Gott.
- Gott hat die Menschen nicht ihrem (elenden) Schicksal hingegeben, sondern er hat sich offenbart und bezeugt. Er hat gezeigt, was gut und was schlecht für den Menschen ist. Er hat den Heilsweg verkündigen lassen. Usw.
- Gottes Liebe zeigt sich meines Erachtens auch in seiner Gerechtigkeit – dass er „die Bösen“ bestraft und „die Guten“ belohnt.
Jesaja 61,8: Denn ich, der HERR, liebe das Recht, ich hasse den Raub mitsamt dem Unrecht.
- Gott hat sich in seiner Liebe ohne jede Voraussetzung auf menschlicher Seite über Israel erbarmt und es zu seinem Volk erwählt.
5Mos 7,7-8: 7 Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der HERR sich euch zugeneigt und euch erwählt – ihr seid ja das geringste unter allen Völkern -, 8 sondern wegen der Liebe des HERRN zu euch, und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen, hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst aus dem Sklavenhaus, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten
- Gottes Liebe zeigt sich in seiner Treue zu Israel (z.B. Jeremia 31,3) oder um sein Werben um Israel (Hosea) oder in seiner Liebe zu den Verzweifelten und Leidenden…
Jer 31,3: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.
Ps 34,19: Der HERR ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.
Jes 61,1: Der Geist des Herrn, HERRN, ist auf mir; denn der HERR hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Elenden frohe Botschaft zu bringen, zu verbinden, die gebrochenen Herzens sind, Freilassung auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen…
Hier der Artikel zum download. Ich kann leider nicht mehr genau sagen, von wo ich ihn her habe, aber hier gibt es ihn auch online.